Peter von Aspern: Also tatsächlich ist es so, dass es Sinn macht, hier noch mal eine Definition vorwegzunehmen. Weil das Wort natürlich auch gerade so in unserem Jargon, in dem wir uns bewegen, im Innovationszirkus, kann man ja fast schon sagen, schon sehr inflationär gebraucht wird. Also im Grunde ist ja eigentlich fast alles gefühlt disruptiv, und alles, was nicht disruptiv ist, ist irgendwie schlecht. Von daher stellt sich die Frage, was denn jetzt eigentlich tatsächlich Disruption ist. Wenn man jetzt dieses Wort so häufig hört und vielleicht selber mal in den Mund nimmt, was meinen wir eigentlich damit? Was wir damit meinen, ist, dass eine disruptive Innovation immer etwas ist, was tatsächlich die Spielregeln auf dem Markt nachhaltig verändert oder auch das Nutzungsverhalten entsprechend verändert. Synonym zur disruptiven Innovation kann man auch die Wörter Basisinnovation gebrauchen, Durchbruchsinnovation hört man seltener, ist aber auch das Gleiche. Und was es jetzt auch gibt, ist die radikale Innovation, was ja auch synonym zu dem Begriff verwendet wird.
Sebastian Metzner: Auch revolutionäre Innovation wird manchmal gebraucht. Es gibt eine ganze Fülle von Synonymen. Häufig aber im Technologiebezug. Ich glaube, 1995 ist das Wort von Clayton Christensen definiert worden. Das war so der Anfang. Aber Peter, vielleicht gehen wir gleich mal in ein Beispiel rein, wo wir das noch mal so ein Stück weit illustrieren können.
Peter von Aspern: Ja genau. Du hast es ja gerade schon gesagt, das Wort Disruption gibt es ja eigentlich noch gar nicht so lange. Aber Disruption an sich gibt es schon durchaus sehr lange. Und das ist interessant, weil es tatsächlich so ist, dass die großen Grundlageninnovationen, übrigens auch so ein Wort, das man sehr gut nutzen kann, die im Grunde jetzt im 20. Jahrhundert unser Leben und auch das Wirtschaftswachstum getrieben haben, tatsächlich die disruptiven Innovationen aus dem 19. Jahrhundert sind. Also beispielsweise die Elektrifizierung, da gehen wir gleich noch mal näher drauf ein. Das ist ein schöner Case, an dem man das sehr gut erklären kann. Aber auch der Verbrennungsmotor, sanitäre Einrichtungen, Kanalisation, das sind alles Innovationen, die aus dem Ende des 19. Jahrhunderts kommen. Also 1870er Jahre bis dann 1900 war tatsächlich so ein Zeitalter, in dem es das pure Feuerwerk der Innovationen gab. Wer damals gelebt hat, der hat wirklich Veränderungen erlebt. Das ist wirklich so. Man kann das tatsächlich an den Zahlen festmachen, haben wir geguckt. Zum Beispiel gab es in den 1890er Jahren in England im Schnitt pro Jahr 24000 Patentanträge. In den 1990er Jahren waren es dann nur noch irgendwie 10000. Also wesentlich mehr, also auch messbar mehr Innovationen sind in diesen Zeiten passiert. Und diese Grundlageninnovationen, die damals geschaffen wurden, um das noch mal zu nennen, Elektrifizierung oder Verbrennungsmotor, haben dann mit ihren Folgeinnovationen das Wirtschaftswachstum und die Innovationslandschaft bis in die 70er Jahre eigentlich geprägt. Das ist wirklich interessant. Das heißt, diese Phase hat eigentlich 100 Jahre gedauert, von der Gundlageninnovation der Elektrifizierung, bis dann sozusagen das maximal ausgereizt ist in den 70er Jahren. Da gab es dann tatsächlich auch so einen messbaren Produktivitätseinbruch, also das Produktivitätswachstum hat dann in den 70er Jahren stagniert, weil man dann genau in dieser Zwischenphase war zur nächsten großen Welle, die dann eben das Zeitalter der Computer ist. Also das zweite Maschinenzeitalter, Digitalisierung. Das ist sozusagen die Welle, in der wir uns ja jetzt auch noch aktuell befinden. Also die digitale Transformation, die dann ja wiederum eigentlich so in den 50er Jahren ihren Anfang genommen hat. Die ersten Computer gab es ja sogar schon Ende der 40er Jahre. Und dann in den 50er Jahren auch hier der Konrad Zuse, die älteren Hörer erinnern sich vielleicht, er hat ja den ersten Computer in Deutschland gebaut. Und dann hat es ja auch eine ganze Weile gedauert, bis eben die Folgeinnovationen da waren, dass dann die IT im Grunde der große Treiber für das Produktivitätswachstum in der Wirtschaft war, was wir dann auch in den 80er und 90er Jahren beobachten konnten. Das ist tatsächlich ganz interessant. Um das jetzt noch mal so ein bisschen näher aufzudröseln, welche Phasen eigentlich disruptive Innovation beinhaltet und wie das funktioniert, dass eben von dieser Basisinnovation hin bis zu dieser disruptiven Wirkung, diese 100 Jahre, von denen wir gerade gesprochen, in welche Phasen man das zerlegen kann. Das kann man eben tatsächlich sehr schön am Beispiel der Elektrifizierung beschreiben. Man muss sich vorstellen, Mitte des 19. Jahrhunderts ging das los. Der erste Use Case der Elektrifizierung war tatsächlich das Morsen. Das war 1844, als das mit dem Morsen los ging. Das kam glaube ich von einem Italiener, Marconi glaube ich, der das marktreif gemacht hat. Und das Spannende war, dass das Morsen auch gleichzeitig den Beginn des Echtzeitalters markiert hat. Vorher hatte man ja total lange delays, also wenn man etwas kommunizieren wollte, dann musste man das ja quasi mit dem Pferd machen. Das hat einfach natürlich alles eine Weile gedauert, bis dann diese Informationen da waren. Und das Morsen hat dann entsprechend diese Echtzeitkommunikation ermöglicht und dann in der Folge Märkte komplett verändert, Preisfindung komplett verändert. Preisdifferenzen von Getreide zwischen verschiedenen Städten konnte man dann kommunizieren. Also total faszinierend, was das ausgelöst hat. Wir merken uns mal, 1844 ging das eben los, Elektrifizierung, Morsen, erster Use Case. Dann kommt die Folgeinnovation. Die Folgeinnovation ist im Grunde so eine Art Killerapplikation, die die neue technologische Errungenschaft in ein Produkt übersetzt, was weitverbreitet gut funktioniert. Und das war dann 1879 die Glühbirne. Also die Tage werden länger, 1879 wurde elektrisches Licht auch im Hamburger Hafen beispielsweise großflächig eingeführt, wo dann das erste Mal tatsächlich Tag und Nacht gearbeitet werden konnte. Alleine das Thema elektrisches Licht, da könnte man jetzt wieder eine super Exkurs machen, was das wieder in der Folge alles verändert hat in der Produktion und im alltäglichen Leben. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie jetzt in der dunklen Jahreszeit das Leben ohne elektrisches Licht wäre. Da braucht man gar nicht drüber nachdenken, die Kerze wäre an, die Wände wären verrußt. Der Vermieter ärgert sich und so weiter. Wir waren jetzt bei dieser Killerapplikation 1879, die Glühbirne. Und dann ist als nächster Schritt wichtig, man braucht diese komplementären Innovationen. Und die kam so 1900 auf in Form der Stromnetze. Denn natürlich, wenn ich jetzt die Glühbirne schon mal habe, dann brauche ich natürlich auch ein Stromnetz, dass ich bei mir zu Hause die Glühbirne eben auch nutzen kann. Also sprich die Stromleitung, die bis zu mir nach Hause führt. Das war dann so um 1900 erreicht, dass im Grunde in den Industrieländern eigentlich jeder Haushalt an das Stromnetz angeschlossen war. Also in den Städten zumindest mal. Und 1900 hat im Grunde jeder Haushalt ein elektrisches Device, und das war eben genau die Glühbirne. So sieht man schon mal, welche Zeitspanne man jetzt tatsächlich durchlaufen hat, also 60 Jahre. Vom ersten Morsen bis zum elektrischen Licht in jedem Haushalt sind schon mal 60 Jahre. Und dann ging es eigentlich erst los mit der Disruption, weil dann im Grunde so ab den 30er Jahren bis in die 70er Jahre nach und nach ja alles elektrifiziert wurde. Elektrische Haushaltshelfer noch und noch. Sei es das Radio, Fernseher, Telefon, die Waschmaschine, die auch das Leben im Haushalt massiv verändert hat. Also es gab dann diesen Waschtag nicht mehr.
Sebastian Metzner: Alles bis zum Thermomix.
Peter von Aspern: Bis zum Thermomix, richtig, kann man die Kette nachvollziehen. Also im Grunde war bis in die 70 er Jahre das Thema Elektronik, Elektrifizierung der Treiber, das war so das Ding. Und das hat wie gesagt enorme Wirkung gehabt auch auf Medien, Radio, auch eine direkte Folge davon. Elektrifizierung der Bahn, elektronische Produktion, also massive Auswirkungen, die im Grunde ihren Ursprung tatsächlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden haben durch diese Basisinnovationen. Und dann eben durch die Phasen der Folgeinnovationen, wie eben der Glühbirne und der Diffusion dann eben mit dem Stromnetz. Und dann der Disruption der verschiedensten Lebens- und Wirtschaftsbereiche durch zahlreiche elektronische Geräte. Die erklären sehr gut, finde ich, wie Disruption funktioniert und in welche Phasen man das so zerlegen kann.