Durch die Chip-Krise, die wir ja schon in dem vergangenen Jahr gesehen haben, ist das Thema ja sowieso auf den Tagesordnungen vieler Unternehmen gelandet. Siehst du, dass verschiedene Produktionskapazitäten wieder zurück in die EU kommen und hier beheimatet werden?
Henning Vöpel: Ja. Wir sehen diese Tendenz auf Seiten der Unternehmen, die das versuchen, die das Reshoring und Nearshoring wieder betreiben, weil diese Lieferketten und Wertschöpfungsketten natürlich fragiler, unsicherer geworden sind. Ich finde, eines der Symbolbilder der letzten Monate war diese (?Ever Given), die im Suezkanal sozusagen schief lag. Also dieser wirklich sehr schmale Suezkanal steht für mich für diesen Just-in-Time-Ansatz der Globalisierung, also für maximale Effizienz. Ein schmaler Kanal und da gehen minütlich die Containerschiffe durch. Aber was ist, wenn diese auf perfekte Effizienz ausgerichtete Globalisierung einen Windstoß bekommt und irgendwas, ein Teilchen, liegt quer? Und plötzlich sind wir nicht mehr in der Just-in-Time-, sondern in der der Just-in-Case-Welt, in der nicht mehr alles glatt und rund ist, sondern in der wir plötzlich Krisen und Schocks und Konflikte managen müssen. Und auch das wird nicht gehen. Ich glaube, dass wir in der Art und Weise, wie wir Wirtschaft organisieren, wie wir Unternehmen managen, die Fähigkeit entwickeln müssen, besser damit umzugehen. Wir haben gelernt, Kompliziertheit zu managen, aber nicht Komplexität. Kompliziert ist etwas, wenn wir ganz viele verschiedene Teile haben, aber wir ein relativ klares Verständnis davon haben, wie es funktioniert. Es ist kompliziert, aber es ist nicht komplex. Und ich glaube, wir gehen in ein Zeitalter der Komplexität, wo wir bestimmte Zusammenhänge gar nicht verstehen oder zumindest so weit weg sind, dass wir sie nicht verstehen oder nachvollziehen können. Also wir müssen die Fähigkeit erlangen, mit Komplexität umzugehen. Und das ist eine ganz andere systemische, systemtheoretische, organisationstheoretische Herausforderung als mit Kompliziertheit umzugehen. Und ich glaube, das ist in der Politik, aber auch in der Wirtschaft und im Innovationsmanagement der ganz große Shift. Also die Welt ist nicht mehr so deterministisch und beherrschbar wie wir sie gemacht haben, sondern sie hat einen Grad an Unsicherheit, an Komplexität erlangt, der von uns wiederum verlangt, anders mit ihr umzugehen, Dinge anders zu organisieren. Ich zitiere das oft, weil ich das einen schönen Begriff finde, nämlich den der Anti-Fragilität. Der Risikoforscher Taleb hat die Frage gestellt: „Was ist das Gegenteil von Fragilität?“ Und die Antwort ist nicht etwa Robustheit, sondern Anti-Fragilität. Was meint er damit? Er meint die Fähigkeit, uns Krisen auszusetzen, um dadurch an Krisen zu wachsen. Also die Vermeidung von Krisen ist keine Strategie mehr. Wir müssen anti-fragil werden in dem Sinne, dass wir die Fähigkeit bekommen, uns Krisen auszusetzen, um an ihnen zu wachsen. Und er gibt ein Beispiel, was ich auch immer ganz gerne zitiere: Wenn man Kindern verbietet, auf Bäume zu klettern, dann werden Bäume für Erwachsene zu einer Gefahr. Und wir haben in der Vergangenheit immer versucht, nicht auf Bäume zu klettern, weil wir sie für eine Gefahr hielten. Und jetzt haben wir alles verlernt, was uns dazu befähigen würde, mit Risiken und Unsicherheit umzugehen.
Peter von Aspern: In dieser deterministischen Welt hat man durch große Verträge zum Beispiel das Völkerrecht, was jetzt hier in dem Fall gebrochen worden ist, versucht, Sicherheit in solche Konfessionen zu gießen. Es gibt auf dieser Welt kaum noch eine unabhängig große, supranationale Instanz, die jetzt auch in die Schiedsrichterrolle gehen könnte. Wie glaubst du, entsteht jetzt diese Anti-Fragilität? Sind das die Unternehmen selbst, die dafür sorgen müssen? Ist es der föderale Staat, der dafür in die Verantwortung gehen muss? Oder sind es sogar supranationale Institutionen wie die UN, die sich vielleicht auch unter dem Kontext neu erfinden muss, die jetzt in dieser Vorreiterrolle ihren Platz neu finden muss?
Henning Vöpel: Ja, das ist eine interessante Frage. Mit anderen Worten: Wer füllt dieses Vakuum eigentlich aus? Ich glaube nicht daran, dass wir sehr schnell neue supranationale Institutionen und Regeln bekommen werden. Wir werden eine gewisse Regellosigkeit auf supranationaler Ebene haben, was wiederum aus meiner Sicht bedeutet, dass Nationalstaaten wieder stärker versuchen werden, ihren Einfluss zu erhöhen. Also wir gehen in eine Zeit, in der der Staat wieder wichtiger wird. Das haben wir in der Pandemie erlebt. Das werden wir jetzt auch in der Industriepolitik erleben. Und Peter, du hattest eben den Chips Act angesprochen. Und die europäische Kommission hat zum ersten Mal bei diesem Chips Act im Grunde das europäische Beihilferecht sehr stark gedehnt. Also dieses Prinzip, dass der Staat im Grunde nicht eingreift, keine Beihilfe gewähren darf, der ist zum ersten Mal im Grunde ausgehebelt wurden, indem angekündigt worden ist, dass die europäische Kommission gerne in Europa große Chip-Fabriken, Forschung und Produktion von Chips ansiedeln möchte und bereit sei, dafür 40 Milliarden im ersten Schritt zu bezahlen. Das ist eine Dehnung des Beihilferechts. Und ich glaube, das werden wir sehen, dass man versucht, dieses Vakuum durch bestimmte nationale Vorstöße an multilateralen Regeln auszufüllen. Das ist das eine, was ich sehe. Und das zweite ist, dass auf der Ebene der Unternehmen tatsächlich jene stärker gewinnen werden, die bereit sind, solche Strukturen auch für sich zu etablieren, also die eigenständiger sind, die besser darin sind, bestimmte Szenarien zu sehen, zu antizipieren, vorbereitet sind auf bestimmte Krisen. Und ich glaube, Organisationen und Institutionen, die diese Eigenschaften und Fähigkeiten haben, die werden erfolgreicher sein. Also dieses Prinzip der Anti-Fragilität wird, glaube ich, auch eines in der Wirtschaft sein, was für den Erfolg immer wichtiger sein wird.
Sebastian Metzner: Ja, absolut. Ich meine, im Grunde waren die ersten Vorboten von dieser Entwicklung ja auch schon durch die Corona-Krise ein Stück weit zu sehen, weil man ja auch gesehen hat, wie empfindlich der globale Handel reagiert. Wenn beispielsweise in China pandemiebedingt ganze Häfen geschlossen werden, ist es bis hier hin für deutsche Unternehmen auch sofort spürbar gewesen. Und da hat sich das auch schon abgezeichnet. Damals hat man nur nicht kommen sehen, dass auch auf der politischen Ebene entsprechend zukünftig ein weiterer Faktor dazu kommt.
Henning Vöpel: Mich würde aber auch interessieren, wie ihr das seht. Ich meine, ihr habt ja auch einen wahnsinnig großen Erfahrungshintergrund und sprecht mit so vielen Leuten. Deshalb würde mich auch mal interessieren, wie ihr diese Zeit gerade einschätzt. Also seht ihr auch eine Zeitenwende in den Aktivitäten, die ihr voranbringt oder wie ist eure Gemütslage gerade?
Sebastian Metzner: Also ich finde das, was Sebastian eingangs gesagt hatte, eigentlich ein gutes Framing, dass tatsächlich auch gerade in dem Kontext von Innovation sehr stark die technologisch-getriebenen Themen im Vordergrund gestanden waren. Wobei wir auch da schon gemerkt haben, dass da eine gewisse Sättigung an diesen Themen eingetreten ist, dass sich Unternehmen auch schon zuvor stärker damit beschäftigt haben, was gesellschaftlicher Wandel bedeutet, was dieser technologische Wandel mit Menschen macht und wie sich das wiederum auf Unternehmen, Organisationen und Märkte auswirkt. Also diese Entwicklung gab es tatsächlich schon vor diesem Konflikt. Aber dieses komplette Infragestellen von so grundlegenden Rahmenbedingungen, was wir jetzt da gerade hier in Europa erleben, das ist tatsächlich etwas, was einfach neu ist. Das muss man wirklich so sagen. Das hat man so auch nicht kommen sehen. Meine persönliche Schlussfolgerung und was ich immer auch schon gesagt hatte, ist ja, dass man natürlich in mehreren Zukünften denken muss. Dass man nicht in die Falle laufen und versuchen darf, die Vergangenheit linear fortzuschreiben, dass immer alles so bleiben wird wie es in Europa war. Das ist natürlich ein großer Fehler. Und dieses Denken in Szenarien wird, glaube ich, jetzt auch zukünftig noch wichtiger werden, weil diese Unsicherheitsfaktoren und diese Komplexität, wie du es auch schon sagtest, noch weiter zunehmen wird. Und deshalb wird es aus meiner Sicht extrem wichtig für Unternehmen, sich entsprechend bestmöglichst auf diese unterschiedlichen Szenarien vorzubereiten und da auch, wie du es gesagt hast, so eine gewisse Anti-Fragilität herzustellen. Für jede Organisation gibt es da natürlich andere Antworten drauf. Für die einen sind das Dinge wie Nearshoring. Auf der Mikroebene kann man das jetzt glaube ich so pauschal gar nicht so leicht beantworten. Aber das ist, glaube ich, so eine Schlussfolgerung daraus.
Peter von Aspern: Also ich muss da bei dem Beispiel von dir, Henning, mit den Bäumen sofort an Buckminster Fuller denken, der ja, glaube ich, in Montreal eine Biosphäre geschaffen hatte, in dem auch große Bäume standen. Und man hat die dort unter besten Wachstumsbedingungen gepflegt und genährt. Und eines Tages fielen diese Bäume einfach um. Und alle Biologen haben sich gefragt, warum fallen diese Bäume um? Sie haben doch sämtliche Bedingungen, um hier groß zu werden. Es gibt keine Schädlinge. Es gibt keine externen Einflüsse. Warum fallen diese Bäume einfach so um? Und tatsächlich ist man zu dem Punkt gekommen, dass der Wind fehlte. Die Kraft, die ständig auf sie einwirkt und dann diese Widerstandskraft auf der anderen Seite hervorbringt. Und das ist das, was ich absolut in deinen Aussagen teile, dass diese Anti-Fragilität, die von der systemischen Perspektive super wichtig ist und die wir, denke ich, alle auch durch Taleb und auch durch die Zitate von Rumsfeld, die Unknowns, gut auf der theoretischen Ebene verstanden haben, jetzt aber in die Praxis geführt werden müssen. Peter hat schon gesagt, Szenarien sind auf der abstrakt-theoretischen Ebene eine Möglichkeit, aber wir sind ja in dieser Welt sehr, sehr stark auf Effizienz getrimmt. Die Frage ist, wie stark können wir es uns leisten, in einer Vielzahl von Möglichkeiten und Zukünften zu denken, nicht nur eine Sache zu machen, sondern mehrere Sachen immer in dem Vertrauen zu machen, nicht nur Redundanzen aufzubauen, sondern diese Anti-Fragilität herzustellen. Und das ist die Frage, die ich gerne noch mal an dich zurückgeben würde, Henning. Bei dem ganzen Thema Energiesicherheit ist das Verhalten von Verbrauchern und Verbraucherinnen ja sehr, sehr wichtig. Es wird, glaube ich, darum gehen, auch zukünftig stärker Verzicht zu üben. Jetzt sind wir eigentlich in dieser Bequemlichkeitsfalle. Technologie wollte, dass wir immer bequemer werden. Alles sollte immer schneller und besser werden. Jetzt müssen wir auf einmal Verzicht üben. Glaubst du, dass wir als Gesellschaft, die anti-fragil werden muss, auch verzichtfähig sind?